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Blühende Landschaft
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2
Abenddämmerung. Ein blühender Frühlingsstrauch am Rande eines weiten, heruntergekommenen Kätnerhofes. Wo sich der Hof in den Krater öffnet steht eine große Hundehütte, aus der eine dicke Kette kommt und als Schleife zurück führt.

Nadia: Mir gefällt das Leben. Mein Gott, ist das Leben schön! Und Sie, Valentin, haben Sie die Frauen geliebt? Hatten Sie Glück bei ihnen - oder?
Tann: Der Schluss war jedesmal ein Reinfall.
Nadia: Wie oft war denn Schluss?
Tann: Große Lieben vier.
Nadia: Und kleine?
Tann: Ich bin rasch entflammbar. Frauen bringen mich in Unruhe. Bloß hab ich wenig Zeit.
Nadia: Dann haben Sie wohl einen ganzen Haufen Kinder in die Welt gesetzt?
Tann: Zur Ehe habe ich es nie gebracht. Ich bin alleinstehend.
Nadia: Schlimm.
Tann: Ich bin ein Pechvogel. Einmal flieg ich von der Straßenbahn, dann aus der Stellung. Das dritte Mal flieg ich in die Luft, und dann bringt mich ein Schwan vom Ballett glatt um den Verstand.
Nadia: O Gott, wie furchtbar.
Tann: Nur Begeisterungsfähigkeit.
Nadia: Waren Sie nett zu den Frauen?
Tann: Ich habe die Wahrheit bei den Frauen gesucht. Was aber ist wahr in der Liebe, Nadia?
Nadia: Schon bei Ihren Worten wirds mir warm ums Herz.
Tann: Wenn man die Beine nicht mehr spürt. Wenn man Flügel hat und fliegt. Wenn sich das Gefühl staut, was für eine Kraft. Ein Klepper kann keine Flügel haben. Soll ich chronologisch berichten oder umgekehrt?
Nadia: Und der Schwan? Was ist das - was haben Sie damit gemeint?
Tann: Das war so ein blutjunges Sternchen. Es war im Herbst. Ich bin nach A. gefahren und habe mich in der Vorstadt eingemietet, weil ich knapp bei Kasse war.
Nadia: Manche Männer haben gar keine Traute, so ohne Geld.
Tann: Ob mit oder ohne Geld. Ich bin von Natur aus schüchtern. Ich bin ein Pechvogel. Ich hatte mich in der Hauptstadt noch gar nicht richtig erholt von meiner dritten großen Liebe, als grad vor meinem Fenster, auf den Sandhügeln, ein hochideologischer Film mit Kühen, Eseln, Pferderennen, Abenteuern und so weiter gedreht wurde. Klassenkampf in der finstersten Ecke. Und die Heldin ist unheimlich hübsch. Ich schau aus dem Fenster zu ihr, sozusagen mit tausend Augen. Und mir wird ganz schwummrig, weil ich so innig gucke, ganz hingerissen.
Nadia: Ach, ich hätt Ihnen zugezwinkert oder wenigstens gelächelt.
Tann: Das konnte sie nicht. Es wurde nach Szenarium gedreht.
Nadia: Szenarium? Komisches Wort. So intellektuell.
Tann: Das ist so eine Art Beschluss. Zum Beispiel, wer wen zu lieben, wer wen zu verprügeln, wer wann zu leiden, wer wann zu reiten, wer woran zu glauben, wer woran zu sterben hat und so weiter. Zum Schluß kommt dann auch das Glück. Einmal für das Soziale insgesamt und manchmal auch das Glück zu zweit. Manchmal gewissermaßen sogar zweigleisig, wenn sich die beiden Hauptliebenden kriegen.
Nadia: Großer Gott, wie das langweilig zugeht nach Szenarium.
Tann: Ein Leben ohne Würde, versteht sich. Fast normal. Aber es ist nur Spiel. Verwandlung. Eben Kunst. Eine unwahrscheinliche Welt, Nadia, man muss sich in einen andern hineindenken, das kostet Ströme, Kanäle von Schweiß. Ich beobachte also die Heldin, wie sie aufgrund der schöpferischen Phantasie gepeinigt und gemartert wird. Und traue meinen Augen nicht, ein Gänschen mit so einem Hals und solchen Augen. Unwahrscheinlich hübsch, aber auch dumm. So kam es dazu. Ich habe mich verliebt.
Nadia: Sie Pechvogel.
Tann: Waren die Venus von Milo oder die babylonische Lilith klug? Bei weiblichen Reizen werde ich nun mal schwach, da fall ich nieder ...
Wühlnik: (von jenseits der Hundehütte) Dem gefallenen Helden einen Gruß aus dem Krater.


3
(Morgen in der Gefängnisruine.)

Wühlnik: Ich reite in den Krater.
Lusinger: Soll der Esel Sie vertreten, Konstantin?
Wühlnik: Das kann er doch? Wo ist die Wirtschaft? Im Krater. Hier ist nur Papierkram und Gesabbel.
Selbstikow: Wäre ich nicht ein Mann der Finanzen und des Rechnungswesens, der zu sitzender Lebensweise verdammt ist, so hätt ich längst alle Sandmeere rundum abgegrast. Messer in der Rechten, Revolver in der Linken, Zügel zwischen den Zähnen. Pferd her. Hojotoho. Hojotoho.

(Aus den Gefängniszellen fahren die Köpfe der erschrockenen Sekretärinnen hoch.)

Lusinger: Schreiben Sie lieber ein Buch über die Nachkriegszeit, Luka. Sie müssen sich von Ihren Erinnerungen entlasten.
Selbstikow: Leider nicht möglich. Keine Begabung fürs Gedruckte. Ich leide furchtbar unter meinem Gedächtnis. Das ganze Blut. Und wofür wir gekämpft haben. Unsere Sehnsüchte im Angesicht des Todes. Das wollte ich aufschreiben. Tja. Ein regelrechtes Fragment hab ich aus meinem Leben gemacht. Habe es an eine Zeitung geschickt. Alle Welt sollte erfahren, wie wir Revolution gemacht haben. Luka Selbstikows Kampf für die Befreiung der Klassen. Tja. Dann kam die Antwort: Ihr Manuskript enthält mehr Wörter, die nicht gedruckt werden können als solche, die wir drucken würden. Dabei hatte ich geschrieben, wie es im Leben ist. Welcher ehrliche Mensch spricht denn nur Wörter, die gedruckt werden können?
Wühlnik: Ich leide nicht an Erinnerungen. Keine Zeit für so was. Soll mein Esel Jean-Jacques hierbleiben. Befehlen Sie, Michael, und ich reite los. Wir alle wissen nicht die Bohne von unserem Krater, außer Sem. Dabei wollen wir doch projektieren, berechnen, bauen und so weiter. Ich nehm ihn und drei Kühe für ein paar Tage mit.
Selbstikow: Ihr Schnapp ist ein Schaumschläger.
Wühlnik: Er kennt den Krater. Er weiß, wo die Weideplätze sind, Brunnen und Felder. Sie kennen ihn nicht, Luka, und kommandieren herum. Wer von uns schlägt Schaum?
Selbstikow: Na schön, reiten Sie, tun Sie sich um. Nehmen Sie aber genug Ballermänner und Munition mit.

(Schnapp und Stehauf schirren die Tiere ein.)

Nomad: Nehmen Sie mich mit in die Krater, Konstantin.
Wühlnik: Das ist kein Spaziergang, Victor. Lieber nicht. Sie haben doch hier genug mit den Kühen zu tun.
Nomad: Haben Sie nie bedacht, wie kurz das Leben ist?
Wühlnik: Nein, keine Zeit. Sie sehen ja...
Nomad: Der Mensch wird geboren, lebt und stirbt. Alles in allem hat eine derart schnell vergängliche Kreatur ein halbes Jahrhundert abzumachen, mal mehr, mal weniger. Das Leben ist phantastisch kurz. Ganz unanständig kurz. Was soll ein kurzlebiger Mensch tun, wenn er die Vielfalt des Daseins erleben und bedenken möchte? Ich bin nie in dem Krater gewesen, ich muss einfach hin, verstehen Sie...
Wühlnik: Gibt es einen Grund? Einen Zweck? Sinn?
Nomad: Wissen an sich ist was Prächtiges. Platons Erkenntnis. Und Sie fragen nach Zweck, nach Sinn? Ich kann beobachten, festhalten, fotografieren.
Wühlnik: Womit? Wir haben keinen...
Nomad: Ich habe. Außerdem genug Material. Aufnahmen vom Krater, von den Brunnen, von der Vegetation in Großformat. Fotos von den Salzseen. Bilder wirken stärker als Berichte. Soll ich mich fertig machen?
Wühlnik: Können Sie eigentlich reiten?
Nomad: Ich war erster Sieger im Military.
Wühlnik: Vergessen Sie Ihr Material nicht. Abmarsch in zwei Stunden.
Nomad: Zu Befehl.


(Im Krater. Die Männer bei der Rast. Schnapp setzt die Blechkanne mit Wasser aufs Feuer, langt aus dem Packsattel ein Filzbündel mit Tassen, Fladen und Schafkäse. Dann lässt er sich auf türkische Art, mit gekreuzten Beinen, auf seinem Umhang nieder.)

Wühlnik: Was wiehern Sie so in dieser Bruthitze?
Schnapp: Nomad zeigt Körper wie ein Säugling.
Nomad: Bei Gott, das ist nicht meine Schuld. Herr Stehauf hat geschworen, die Hosen wären nicht kaputtzukriegen. Da, sie haben seinen Schwur nicht gehalten. Sind einfach aufgerissen, kaum als ich in den Sattel gestiegen war.
Wühlnik: Schneidig sind Sie vor den Kühen hergeritten. Ich dachte immerzu, wie der doch wunderbar im Sattel sitzt, wie bei seinem Military.
Nomad: Ein Wunder ist das Pferd, der Satansbraten.
Schnapp: Ein Gaul wie er sein muss. Nicht faul, rabenschwarz mit Blesse. Dazu ein bequemer Sattel und der Zaum silberbeschlagen. Alles bestens.
Nomad: Sieh an, unser Stallmeister kommt ins Schwärmen.
Wühlnik: Ist schließlich das Pferd vom Direktor. Sie haben ihn doch nicht entführt?
Nomad: Alles hochoffiziell. Ich erlaubte mir, nachdem Sie, Herr Konstantin, mir zwei Stunden zum Sachenpacken zugestanden hatten, einen alten Wallach zum Direktor nach Hause zu schieben. Dort legte ich mein minderwertiges Selbst zu Füßen der allumfassenden Majestät und neigte die Stirn untertänigst in den Staub seiner engelreinen Schwelle. Vergebung, Herr Präsidialbevollmächtigter, ich neige den Kopf zu Euren Füßen, lasset die Sonne Eurer Gnade leuchten, Flohrer-Pascha, meine Söhne, Enkel, Urenkel und Ururenkel werden um Euer Seelenheil zu Gott beten, Ehre seinem Namen, Ruhm seinem Gedenken, und wollet Ihr mir, dem nichtswürdigen Stäubchen, den Himmel Eurer Güte und die Offenbarung Eurer Macht erweisen und Eurem Oberstallmeister beordern, er möge mich nicht das strahlende Antlitz Eurer Herrlichkeit beflecken lassen und mich auf diesem jammervollen Klepper mit dieser Strippe von Halfter kraterwärts schicken und so Eure Gloria verdunkeln, indem die Heiden in mir einen Fleck sehen auf dem leuchtenden Gewand Eurer Majestät. Florian, unser geliebter Direktor, hat das Schwert der Gerechtigkeit aus der begnadeten Scheide gezogen und ungesäumt aufs Pergament mit Direktorenkopf gesetzt: Nomad mein Pferd geben. Persönlicher Befehl. Soll sich in den Krater scheren. Ich aus dem Staub, schnappe mir den Hengst des Direktors, dazu den Sattel des Direktors und obendrein das Zaumzeug des Direktors. Das ist die ganze Geschichte.
Wühlnik: An Ihrem Lagebericht werde ich noch zu knabbern haben. Wenn Flohrer nun aber doch...
Nomad: Ich bitte Sie, was soll der Direktor mit einem Hengst? Er sitzt im Gefängnis. In geruhsamer Kühle. Er ist allmächtig. Er wird dort sitzen bleiben. Sein Gesinde mästet den Hengst vor Feuereifer so, daß er völlig ramponiert ist. Er hat den Satan im Leib, er will tüchtig herangenommen werden. Das ist der Sinn und der Zweck. Was macht der Tee?
Schnapp: Gleich fertig. Guter grüner Tee.
Wühlnik: Victor, könnten Sie uns nicht Ihre Geschichte vom Fotoapparat erzählen?
Nomad: Mit dem größten Vergnügen. Geschichten lassen sich aus allem schöpfen. Es braucht nur die Gabe der Phantasie. Die Macht der Phantasie schafft Ereignisse. (Er reicht Fotografien herum.) Den Fotoapparat hat mir der Ingenieur Futurion verehrt. Pardon, nein, es war Ingenieur Dionysios.
Schnapp: Eine Nase hat der. Die Krönung aller Nasen ist das. Wie ein Kuhhintern, so bucklig. Todschicker Hut. Mantel bis zum Knie, tüchtig eingedreckt. Ziegenbeine bis zum Hals. Die Stiefelschäfte hängen über die Knöchel. Ein ziemlich schäbiger Kampfhahn. So was will ein Mann sein.
Wühlnik: Aber eine hübsche Frau hat er.
Nomad: Wie Sekt. Wenn ihr sie bloß hören könntet. Blond, rundliche Sachen und doch wie ausgehungert. So schwül. Auf dem Wimmerklavier schlägt sie herum und ihr Rückgrat schlängelt sich dabei, es jubiliert bis hinauf zu diesen Schultern, lockend mit blondem Flaum, drall und prall.
Schnapp: Verdammt. Dämliches Vieh.

(Schnapp fährt auf. Sein Maultier zerrt am Filzbündel und verstreut das Mehl. Nomad streckt sich auf Schnapps Umhang aus.)

Nomad: Der Bauingenieur Dionysios ist, wie soll ich es sagen, in seine junge Frau verliebt. Kindliches Lärvchen. Kurven bis unter den Scheitel. Warm und dampfend, zum Reinbeißen. Er knipst sie in diversen Posen und natürlich auch ohne Posen. Vor haufenweise Grasbüscheln. Vor Öfen zum Ziegelbrennen. Vor Kühen. Auf einem Hügel. Auf einem Bein. In den Tulpen am Hügel. So lange, bis ihm der Speichel aus dem Maul läuft und er beim Herumfummeln in einer Grube versinkt, wo die Bauern Lehm für ihre Ziegel holen. Die junge Frau schluchzt über der Grube wie in einer italienischen Oper und der Ingenieur hechelt und quakt tief dazu wie ein Ochsenfrosch, ganz tief unten in seiner Einsamkeit. Immer tiefer. Weit und breit keine Menschenseele, weil nämlich Feiertag ist. Stehauf und ich treiben unsere Kühe vorbei. Ich sage ergriffen zu dem blonden Kind: Ich möchte Ihren Pechvogel ja gern aus seiner Unglücksgruft befreien, doch haben wir vollauf zu tun mit gesellschaftlich nützlicher Arbeit. - Sie: Verlangen Sie, was Sie wollen. - Der reinste französische Roman: Das Schicksal trennt die Liebenden, der raffgierige Gauner kommt heran, und siehe da, dieser romantische Schlingel schnappt die Heldin und bringt sie in die finsteren Gassen der Großstadt und so weiter, schlimm. - Wir haben danach eine Schlinge geknüpft und den meterlangen Bauingenieur vor die Alabasterknie seiner Frau gehievt. Und er, voller Lehm wie ein Biber und verschmiert wie ein Wurm, schmatzt uns ein Dankesküsschen auf die Backe. Ende der Geschichte.
Schnapp: Und der Fotoapparat?
Nomad: Blubberte in der Grube.
Wühlnik: Kaputt?
Nomad: Ingenieur Dionysios war nach seinem Rutsch in Richtung Erdmittelpunkt ein bisschen bematscht. Demzufolge hatte er gar nicht gespitzt, dass Filzhut und Fotoapparat noch tiefer geflogen waren als er selbst. Quasi schräg unter eine Steinnase. Wie der blonde Traum wieder einigermaßen bei sich ist, schluchzt sie erneut los wie auf dem Friedhof, ringt die Hände, stöhnt, sie möchte lieber sterben als ohne Fotoapparat sein und so weiter. Da raunzt mich der Ingenieur an: Raufholen. In diesem Momentchen stopft Stehauf dem undankbaren Dürrwicht unsere drei unziemlichsten Uraltwörtchen in den Gehörgang. Dann widmen wir uns konzentriert den dienstlichen Obliegenheiten zum Wohle der Gemeinschaft, indem wir die Kühe zur Weide treiben.
Schnapp: Und der Fotoapparat?
Nomad: Aus dem Sattel gleich welchen Vierbeiners ist die Sicht gut. Das tragische Paar entfernte sich ins Abendlicht. Sie voran, ein wenig wacklig im Trab, mit zorngeschwollenen Lippen. Er humpelnd hinterdrein, stumm wie ein begossener Pudel. - Ein bisschen haben wir gewartet, sind dann zurückgekehrt, haben Fotoapparat und Hut aus der Grube geholt und sind im ersten Sternenlicht, in friedlich stiller Nacht, dann doch auf der Weide angekommen.
Schnapp: Und der Fotoapparat? War er heil?
Nomad: Ja, tadellos in Ordnung. Die Bilder waren noch drin. Aber demnächst geb ich ihn zurück.
Schnapp: Und was ist aus dem Filzhut geworden?
Nomad: Den habe ich Stehauf vermacht für uneigennützige Hilfe zum Wohle des Volkes bei der lebensgefährlichen Errettung eines abgesackten Bauingenieurs. Ich habe ja eine Kopfbedeckung, ein Handtuch, unsichtbar mit goldenen Hähnchen bestickt. Wohingegen Stehauf, der treue Sohn unseres Volkes, bis dahin baren Hauptes einherging und einen traurigen Anblick bot. Jetzt soll der Fotoapparat dem Aufbau der Wirtschaft und dem Gedeihen der Gesellschaft dienen. Herr Dionysios wird ihn wohl so lange entbehren müssen. Und das blondgelockte Stütchen - spann ich ihm aus.
Schnapp: Aber nicht in diesem Aufzug.

(Nomad bedeckt seine Blöße so gut er kann.)
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