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Im Reich des Idealen
Erste Skizze über einige selbstbiographische Aufschlüsse Carl Barths und seine innere Verfassung

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Carl Barth mochte sich mit zunehmendem Alter aus mehreren Gründen in eine Sackgasse gedrängt fühlen. In seinen selbstbiographischen Äußerungen vermeidet er die Nähe kritischer Themen, die ihm auf der Seele brennen. Er scheut die grundsätzliche Auseinandersetzung. Das Verleugnen oder Abdrängen existenzieller Lebensfragen gehört ebenso zu seinem Wesen wie das stetige Hoffen auf Anerkennung. Ihm ist zu keiner Zeit bewusst, dass die Verbesserung seiner Lage mit Veränderungen zunächst bei ihm selbst einher gehen müsste und dass diese wiederum eine schonungslose Analyse der gegebenen Situation erforderte. Stattdessen flüchtet er in die landläufig moralisierende Sentenzenstanzerei seiner Aphorismen, in denen er sich gottselig und völlig humorlos als die letztgültige Instanz vor der zu erwartenden Lösung des großen Welträtsels vorstellt. Auf diese Weise gelingt ihm auch mühelos das Kunststück, seine eigene Unsicherheit im Felde unumstößlicher Rechthaberei und biedermännischer Innerlichkeit zu dressieren: Sehr selten nur wird ein Mensch gefunden, der ein wahres treues Bild seiner selbst und seiner Lage sich gemacht hat, oder von Andern vorgehalten bekäme, woraus neben tausend andern Nachtheilen der entsteht, daß er überall lebenslang in der Hetzjagd nach Glück sich abmüdet, und nur da, wo er es am sichersten finden könnte, nie sucht, am eigenen Herde und in seinem Innern. (69)
Hier behauptet Carl Barth all seinen bitteren Lebenserfahrungen zum Trotz, er würde in der Besinnung auf sich selbst sein Glück gefunden haben. Dieser psychische Burgfrieden, mit dem das Ungleichgewicht seiner natürlichen Anlagen eingefriedet, ja eingemauert werden soll, muss letztendlich zur Katastrophe führen. Der lange Schatten seiner nachrömischen Neurose, erwachsen aus den gescheiterten Beziehungen zu Carl Philipp Fohr und Johann Friedrich Böhmer, verdunkelt sich von Jahr zu Jahr.
Aus den wenigen zum näheren Themenbereich erhaltenen Briefen von und an Carl Barth wird im Vergleich eine kulturhistorisch denkwürdige Parallele zum Lebensgang des Grafen August von Platen (1796-1835) sichtbar, der allerdings im Unterschied zu Carl Barth seine homoerotische Neigung direkt reflektierend erkennen konnte, wenngleich auch er letztlich an der zeitbedingt nahezu unüberwindlichen Schwelle zum öffentlichen Bekenntnis tödlich gescheitert ist.
Carl Barth hat seine erotische Neigung in seinen Versen angemessen getarnt. Sie tragen alle durchgehend einen elegischen Ton, der bei leichtfertiger Lektüre für zart empfunden gelten könnte. In Wirklichkeit gebraucht Barth die rhythmisierte Sprachform - durchaus im tradierten Sinne der klassischen griechischen Andeutungen überwiegend als Sonett - zum lyrisch maskierten Bekenntnis. Hier findet er für sich die einzige Gelegenheit, offen über seine Not zu sprechen. Allein die sorgsam und mit unendlicher Geduld gedrechselten Gedichte geben ihm die Möglichkeit, sein Innerstes vorzuzeigen, der Welt sein Reich des Idealen (70) zu öffnen. Dabei allerdings belässt er es - weil er nur hier, im Vers, damit rechnen kann, dass dieses Reich nach seinem Willen zur Unkenntlichkeit missverstanden würde.
Geschickt, in fast grotesker Weise, vermeidet Carl Barth in seinen Liebesgedichten den positiven Bezug auf konkrete erotische Handlungen, auf körperliche Einzelheiten, die ihn, würde er über Frauen schreiben, doch anziehend berühren müssten. Spätestens seit den Liebesgedichten der Renaissancepoeten fehlen derartige direkte Verweise nicht, die Stürmer und Dränger wussten die weiblichen Reize auffällig ins lyrische Bild zu rücken und auch die Romantiker scheuten vor körperlichen Entdeckungen nicht zurück. Werden bei Carl Barth einmal Regina (71) (lat., - Königin, K.B.) oder Vana (72) (lat. vanus - Leere, Eitelkeit, K.B.) angerufen, so richtet sich das lyrische Subjekt erkennbar jeweils an eine allegorische Figur, an eine Königin oder die Eitelkeit, niemals an eine konkrete Person. Immer auch steht dem üblichen indifferenten Arsenal - der Stirne schimmernd gleich dem Rosenblatte (73), Dein magdlich lieblich still demüthig Neigen (74), der Mund das Knospen einer roten Rose (75) - auf der einen Seite der alles zurücknehmende Tod gegenüber, der alles zur eitlen, im Grunde sinnlosen Bemühung degradiert. Auf der anderen Seite wird - mit überschwänglicher Geste - die ins Menschheitliche gedachte, ja sogar ins Kosmische gesteigerte Liebesuniversalität beschworen. In einem lyrischen Zerrspiegel bietet Carl Barth seine Herzensneigung zur Unkenntlichkeit entstellt an nach der Darstellungsmethode der Manieristen. Das Individuelle bleibt völlig ausgeschlossen, dafür rückt das schematisch Ideale zum Dreh- und Angelpunkt der poetischen Perspektive auf. Ein Vexierspiel, das dem Autor erlaubt, seine Leidenschaft öffentlich zu bekennen, sie aber gleichermaßen effektiv zu verbergen. Die absurden Züge dieser Methode bündelt das Gedicht Die Liebe, in dem noch nicht einmal die Anspielung auf ein weibliches Gegenüber vorkommt, doch alles dafür spricht, dass der Autor im Verbergen seiner eigentlichen Absicht die verschlüsselte Huldigung eines gleichgeschlechtlichen Partners oder zumindest ein Lob der homoerotischen Beziehung als eines legitimen Ausdrucks allgemeingefasster, dem göttlichen Plan entsprechender Liebe anstrebt:

Die Liebe
Aus Liebe schuf Gott Sonne, Mond und Sterne,
Und Erd´ und Meer, und was in ewger Ferne
Dem ird´schen Auge dort verborgen bleibet,
Sein heimlich Wesen tief in Grüften treibet;
Die Liebe hör´ ich in dem Sturme rauschen,
Im Spiel der Mücken kann ich sie belauschen,
Im Donner hör´ ich sie die Welt durchhallen,
Und ahne sie im zarten Kindeslallen;
Sie spricht im Blitze, leuchtet in der Kerze,
Sie schuf die Thräne, wie unschuld´ge Scherze;
Du fühlst sie duften, blühn in jeder Blume
Und spürst ihr Weh´n im Tempels-Heiligthume.
Ein Klang tönt durch das Weltall: Liebe, Liebe!
Schlägt denn ein Herz, das ungerühret bliebe,
Sich hart verschlösse diesem heil´gen Triebe,
Nicht dankend brächte Liebe dar der Liebe? (76)

Das erklärende Herangehen des Autors erinnert an den Versuch gehemmter Eltern, ihrem Kinde die physiologischen Zusammenhänge der Sexualität mit dem Bild von der Biene und der Blüte verständlich beibringen zu wollen. (77) Das klägliche Rechtfertigen mit dem eintönigen metaphorischen Fundus erzwungenen gärtnerischen Frohsinns (78) bricht schließlich über die Ränder und schießt auf in eine Klage, die die innere Verfassung Carl Barths, seine Lebens- und Liebesnot offen zutage bringt. Das quälende Grübeln um die kosmische Vielfalt der Liebe und der einen, ihm gegebenen, die es nicht geben darf, das ewige Gedankenkreisen um den heil´gen Triebe in sich selbst, der ausgeschlossen bleibenden Natur, die nur von Entsagung und Leid begleitet ist bis hin zu den immer wiederkehrenden schockierend düsteren Bildern der Todessehnsucht:

1.
Gleich einem Hause mit weit off´nen Hallen,
Einladend hingewandt nach allen Zonen,
Geschmückt, um hell und heiter d´rin zu wohnen,
Gastfrei sein Bestes bietend Gästen allen;

So nahm mein Herz mit innigem Gefallen,
Was liebend schien, mit Liebe schien zu lohnen,
Einst alles liebend auf, darin zu thronen,
Und in ihm war ein gleiches heit´res Wallen:

Der heit´re Himmel mit den hellen Sonnen,
Die Erde mit den Düften, Farben, Tönen,
Die Kunst mit Sternenkron´ und Flügeln golden,

Die Freundschaft und des Glaubens tiefe Bronnen,
Vor Allem aber euer Kranz, ihr Schönen,
Darein gefaßt das Bild von der mir Holden.

2.
Ich sitz´ allein, die Thüren fest verschlossen,
Und still ist es von außen wie von innen;
Ich hör´ im Stundenglas die Körnlein rinnen,
Von deinen Schleiern, Mutter Nacht, umflossen.

Da hat auf einmal sich ein Heer ergossen
Von dunkelen Geburten meiner Sinnen;
Ich kann nicht mehr das Lösungswort gewinnen,
Zu wehren ihren dräuenden Geschossen.

Mein Glück als Leiche seh´ ich abwärts tragen
Von den verlor´nen Stunden tief in Grüfte;
Herauf steigt Reue, zielet nach dem Herzen.

Im Kreise steh´n die Schmerzen und die Klagen,
Ihr Wehgesang erfüllt die stillen Lüfte,
Der Sturm verlöscht im Lebenshaus die Kerzen. (79)

Es bedarf des genauen Lesens, um Carl Barth nicht misszuverstehen. Es geht ihm bei diesen mit klagender Betrachtung ausgefüllten Sonetten nicht um Frauen. Wie in fast allen anderen Gedichten zu diesem Themenkreis gilt sein raunender Sang weder der Schönen noch der Holden in persona. Vielmehr wendet er sich den höheren, allegorisch verbrämten Bildwerken aus seiner empfindsamen Seele zu, dem heit´ren Himmel mit den hellen Sonnen, der Erde mit den Düften, Farben, Tönen, der Kunst, mit Sternenkron´ und Flügeln golden, der Freundschaft und des Glaubens tiefe Bronnen. Allein dieser Reigen seiner inneren, von göttlicher Aura umgebenen, auf Idealniveau gehobenen Wertfundamente, dieser Kranz der schönen, allegoriegestützten Metaphern umfasst das Bild seiner Holden. Das ist jene, die Sternenkron´ und Flügel golden ihr eigen nennen darf, seine mit geradezu religiöser Emphase angebetete Kunst. Doch ist das Glück Bedrohungen ausgesetzt, im Kreise umstanden von Schmerzen und Klagen, schließlich wird es sogar als Leiche abwärts (ge)tragen. Dieser selbstzerstörerische, in verzweifeltem Aufschrei herausgepresste Alptraum ist ganz offensichtlich der Preis des Geheimnisses, des erzwungenen Alleinseins, es sind die Thüren fest verschlossen.(80)
Carl Barth stimmt hier den Generalbass an, der all seinen Herzensgesängen zugrunde liegt. Er hat in seinen Gedichten eine Form gefunden, in der er Bekenntnis ablegen und gleichzeitig verschleiernd Stellung nehmen kann. Die Verse dokumentieren nahezu ungedämpft jene Spannungen, die Carl Barth zwischen den dunkelen Geburten meiner Sinnen und der aus den Grüften der Glücksleichen aufsteigenden Reue, die nach dem Herzen zielet auszugleichen suchte mit der Aussicht, dass der Sturm im Lebenshaus die Kerzen löscht.
Die Befürchtungen vor dem Offenbarwerden der gleichgeschlechtlichen Neigung waren gerechtfertigt. Das Geheimnis musste der Öffentlichkeit gegenüber unter allen Umständen bewahrt bleiben. Dies erklärt die zunehmende Vereinsamung Carl Barths, seinen freiwilligen und kompromisslosen Rückzug von der Welt. Die wenigen Menschen, mit denen er in oder von Hildburghausen aus während der fortgeschritteneren Lebensphase näheren Umgang pflegte, der Dichter und Wissenschaftler Friedrich Rückert in Neuses, der Arzt Carl Hohnbaum in Hildburghausen oder der Kupferstecher und Drucker Heinrich Felsing in Darmstadt beispielsweise, konnten mit ihrem Wissen umgehen, sie waren weltoffen, tolerant und Carl Barth war ihnen im sozialen Raum kein lästiger Konkurrent. Als Verfasser literarischer Texte war er über den persönlichen und regionalen Bezug hinaus bedeutungslos. Als Kupferstecher stand er an der Spitze der Virtuosen seiner Zeit - Heinrich Felsing war sich seiner Zweitrangigkeit in diesem Kunstfach mehr als bewusst und trat öffentlich nur noch als Drucker, allerdings einer von Format, in Erscheinung. Als Patient war Barth bei Hohnbaum in allerbesten Händen.
Es war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gravierender Unterschied, sich seiner selbst treu bleiben zu können durch eigene Zurücknahme aus dem gesellschaftlichen Umgang oder sich der gesellschaftlichen Hinrichtung in aller Öffentlichkeit zu stellen. Carl Barth wählte die erste Möglichkeit, August von Platen die zweite. Bei dieser Wahl blieben die Herkunft, das psychische Naturell und die Umstände der Erziehung von bestimmendem Einfluss. Dem Kupferstecher fehlte es an weltzugewandter Offenheit und einem fest gegründeten Selbstvertrauen. Ohnehin bot das Ackerbürgerstädtchen Hildburghausen, dessen Status als Duodez-Residenz 1826 aufgehoben worden war, mit knapp 4000 Einwohnern nicht das geeignete Feld, auf dem ein allbekannter Neurastheniker derartige Neigungen als bekannt vor sich herzutragen, geschweige denn auszuleben sich erlauben durfte. Der ewige Student und Dichter Platen hingegen, seit 1826 bestärkt von der Atmosphäre und den Menschen seiner italienischen Wahlheimat, öffnete sich allen Anregungen und Einflüssen. Er offenbarte mit zunehmendem Alter - höchstwahrscheinlich machte Platen in seinem 28. Lebensjahr in Venedig erste sexuelle Erfahrungen (81) - seine homoerotische Neigung in einem Maße, wie sich Carl Barth aus gleicher Ursache mehr und mehr verschloss.
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