Referenzen
 
Kritik
 
Literatur: MEININGER DRAMATURGIE
 
oder Das Protokoll einer Übertragung

Zu Werner Schneyders Meiningen oder Die Liebe und das Theater

Der als hochblütiger Kabarettist und austriazistischer Chansonnier in
kulturell interessierten Publikumsschichten bekannte sowie auch als
sattelfester Boxkommentator unter dem Rest der Bevölkerung berühmte, 1937 in
Graz geborene, in Klagenfurt aufgewachsene Werner Schneyder kam aus der ihm
nunmehr heimischen österreichischen Hauptstadt nach Meiningen gereist, um
ein Stück des Wiener impressionistischen Autors Arthur Schnitzler zu
inszenieren. Das weite Land, erschienen 1910, ist neben der aus Theater,
Funk, Film, Fernsehen und Gerüchteküche bekannten Szenenfolge Der Reigen
jenes hochdramatische Seelendrama, im dem der als Mediziner praktizierende
Autor am entschiedensten die Frage des zwischen Liebe und Tod oszillierenden
Gesellschaftslebens unter Zuhilfenahme der damals hypermodernen
Krafft-Ebingschen und Freudschen Erkenntnisse sowie der
erfahrungsabstinenten Seelenberichte des jungen Otto Weininger über den
Abgrund Frau als solchen herausarbeitete. Julius Bab bescheinigte den
Schnitzlerschen Werken denn doch etwas mehr als geistreiche Pornographie zu
sein. Nach Das weite Land kam 1912 das weit wesentlichere Drama
Professor Bernhardi auf die Bühne, aber das hat Werner Schneyder
bedauerlicherweise nicht nach Meiningen geschoben. Ihn interessiert nicht
eigentlich Soziales und Politik auf dem Theater, sondern ein recht neutral
gesprochener Schnitzler-Text und die Erotik als Gesellschaftsspiel, also
die verlogene Erotik und die erotische Lüge. Von Beginn an täuscht
Schneyder nichts vor: er möchte das Angebot aus Meiningen nutzen, um seine
Vorstellungen gegen die Wiener Routine auf die Bretter zu stellen, einen vom
sämigen Schönbrunner Salonton befreiten Schnitzler, Psycho in
hochdeutsch-farcenhafter Präzision. Eine Möglichkeit, immerhin.

Das Bändchen füllt ein überlanges Feuilleton, eine Hommage für das Theater
schlechthin, für das Meininger Theater im Besonderen möglicherweise, und es
ist auch eine Dramaturgie der Tragikomödie Das weite Land. Ein Büchlein
mithin für Theatermacher und -freunde, für die Beteiligten am großen
Besucherstrom des Meininger Theaters und für die Interessierten an der eher
zarten Saite des sonst doch so robust erscheinenden Werner Schneyder, ein
Büchlein auch über Kultur im weitesten Sinne in Verbindung mit Umgang,
Inszenieren, Selbstbespiegelung, Liebe, Naivität und diesem und jenem; nicht
zuletzt ist es ein Anlass, für weiterführende Bemerkungen. Das ist für eine
Publikation dieser Art nicht der schlechteste Ausweis und also lohnt es
sich, darin zu lesen. - Das war das unvoreingenommen zu Bemerkende. Nun zu
dem, was ich mir beim Lesen vornahm.

Die erdrückende Mehrzahl der Menschen ist gänzlich unfähig, sich
individuell in die Seele eines anderen zu versetzen. Dies ist sogar eine
ganz seltene Kunst, die nicht einmal allzuweit reicht. Auch der Mensch, den
wir am besten zu kennen vermeinen, und der uns selber bestätigt, daß wir ihn
restlos verstehen, ist uns im Grunde genommen fremd. Er ist anders. Und das
Äußerste und Beste, was wir zu tun vermögen, ist, dieses Andere wenigstens
zu ahnen, zu achten, und uns vor der gewalttätigen Stupidität, es deuten zu
wollen, zu hüten. Das sagt Carl Gustav Jung in seinem Buch Das Ich und das
Unbewusste - erstaunlich, wie es zu Das weite Land und zu Meiningen
passt. Arthur Schnitzler schreibt ein Lügengewebe an Dialogen, bildet darin
in zum Feinsten gesponnenen Beobachtungen psychische Realitäten ab und
stellt sie auf eine Nadelspitze, wo sie die soziale Wirklichkeit berühren.
Werner Schneyder gibt sich auf, die psychischen Linien nun genau zu
verfolgen, erklimmt ungesichert dieses turmartige Gebirge im weiten Land der
ausgebreiteten Seele - und erkennt prompt das winzige, hauchfein versteckt
liegende Fundament nicht. Es ist zum Heulen, aber nicht zu ändern: In seinem
Buch bestätigt Werner Schneyder die Halbierung Schnitzlers in aller
Ausführlichkeit und bekennt damit, wahrscheinlich völlig unbewusst, dass ihm
die Figuren des Dramas, trotz aufwendiger Entdeckungsreise, auf
geheimnisvolle Weise fremd waren und weiter geblieben sind.

Ob die Schneydersche Lesart und sein Szenarium für die Inszenierung gefällt
oder nicht - es sei ihm zugute gehalten, dass er sich um den Text bemüht hat
und strikt aus ihm seine Vorstellungen entwickelt. Er nimmt das Angebot des
Autors ernst, und das verdient Respekt, weil es durchaus keine
Selbstverständlichkeit mehr ist in den Theatern rund der Republik. Der
Regisseur als Diener des Autors - eine Tugend, die zur Vorbedingung hat:
Geist, Verständnis und Demiurgenstärke. Er stellt Fragen, ist sich kaum
einer Sache restfrei sicher, zweifelt Schlussfolgerungen an. Selten findet
ein Leser einen von redlicherer Absicht gebotenen Einblick in den kreativen
Prozess, dem Entwerfen, Verwerfen, Zweifeln, Verzweifeln, Trotzen,
Ertrotzen.

Es ist nicht leicht zu tragen, auch nicht leicht zu sagen. Schnitzlers Stück
ist geradezu schillernd vor psychischen Nuancen, das Gesagte ist nicht wahr,
das Gemeinte steht nicht da, Freundlichkeit ist Mordversuch,
Liebenswürdigkeit ist Verachtung. Wie ein noch unentdeckt von Motten
zerfressener Teppich entfaltet sich das tiefreichende Beziehungsgeflecht der
Figuren. In dieser Hinsicht ist Schnitzler immer unter Wert behandelt
worden, doch er steht, und dies hat Schneyder notabene, doch sehr bestimmt
apostrophiert, gleichwertig neben Anton Tschechow und August Strindberg.
Seine Themen sind von denen der beiden anderen verschieden, von in großer
Höhe eingenommenem Abstraktionsgrad allerdings gleichen sie sich wie eine
Stadt der anderen in der Region, die gemeinhin als Dekadenz bezeichnet wird.

Werner Schneyder ist ein langer Kerl, wie die Preußen ihn bezeichnen würden.
In Thüringen ist er ein großer Mann, an dessen eher skeptischem Blick vorbei
der Leser Meiningen betritt, offenen Auges hin zum kleinen Theater mit
seinen winzigen Türchen, durch das Umschlagfoto hindurch in ein schmales
Bändchen mit kleinen Geschichten und unangestrengten Erkundungen des weiten
Bühnen- und Lebenslandes bei Schnitzler und Schneyder. Zu lesen gibt es
kluge Sentenzen, leere und dumme Sätze, witzige Bemerkungen und dämliche
Sprüche, sogar köstliche Platitüden - was Wunder, es spiegelt das Leben
unten im Saal und auf der Bühne. Auch Goethe hat dummes Zeug gesagt, wie
jeder, der so viele Wörter, mal mehr mal weniger, hintereinander zu setzen
hatte und hat. Nur Alfred Kerr hatte immer recht, gleich nach Karl Kraus.

Die Beispiele. Eine allerfeinste Platitüde murkelt um die dramaturgische
Partitur: Ein Fis ist eine Note wie eine andere. Nichts als ein Fis. Aber
an einer ganz bestimmten Stelle, am Rande der Harmonie, löst es etwas
Unterschwelliges aus. Man muss...im Dialog die banalen Noten auf ihre
Funktion in der Harmonie untersuchen, die Funktion erkennen. Deshalb muss
man sie dann nicht lauter oder leiser spielen. Nur anders. Das ist eine
elende Worthuberei, deren kabarettistischer Wert nur in Gold aufzuwiegen
ist, wie etwa auch die Qualitäts- und Interpretationsspielräume innerhalb
der theatralischen Sinnhaftigkeit. Warum nicht auch einmal unfreiwilliger
Humor, das Lachen schärft die Aufmerksamkeit für einen leeren Satz: Es
zählt zu den großen Posen, eines Freundes Eigenschaften zu bewundern, weil
man sie selbst nicht hat. Das verhilft der Egomanie zu einem Schuss von
Größe. Pah! - Dummer Satz? Bitte: Es kann ein Theaterstück nie altmodisch
sein, wenn ein ´Stil´...die Voraussetzung für das Geschehen ist, auch ein
verblichener, vergessener Stil. Die Zwänge des Milieus sind gleich
geblieben. Von der griechischen Tragödie bis zur Gegenwart. Da blickt
Loriot betroffen und spricht: Aaahhja! - Zu schlechter Letzt noch eine
dämliche Bemerkung: Ich hätte autoritärer sein müssen. Mir wird bewusst,
welch faschistoides Potential der Regisseurberuf erfordert. Ähnlicher
Humbug spreizt sich aus in Begriffen wie surrealer Naturalismus oder in
der Bezeichnung Machismus, wo Machismo gemeint ist - diese Unterscheidung
ist deshalb wichtig, weil der Machismus, also die philosophische
Denkrichtung, die auf Ernst Mach zurückgeht, in Schnitzlers
Wahrheitsauffassung eine Schlüsselrolle spielt.

Kluge Sätze und witzige Bemerkungen überwiegen die wohl eher unbedachten
Fadaisen - die, es soll dennoch spitzfindig bemerkt sein, Werner Schneyders
eigene Provinz offenlegen, unaufgeräumte und halbkultivierte Areale im
weithin sonnenbeschienenen Land. Daher hasse ich dieses Theater, in dem
Schauspieler voreinander die künstlerische Wahrheit herstellen. Die
künstlerische Wahrheit ist für das Publikum herzustellen, muß gespielt, also
erlogen werden. - In jedem Ibsen-Stück ist jedes Motiv dreimal erklärt.
Manchmal ist einmal schon zuviel, weil wir heute voraussetzen können, daß
das Publikum Spiel, darstellende Menschen, lesen kann, begreift. Witzige
Bemerkungen: Man kann nicht homöopathisch Regie führen. Ich lüge. Aber
das passt wunderbar zu diesem Stück. Und so weiter. Meiningen ist reich
an solchen Stellen, sie bereichern und fördern das Leseinteresse. Auch, weil
Schneyder als Regisseur ein verbohrter Anwalt des Publikums ist - das
erheischt Sympathie und lässt die bemäkelten Stellen unwesentlich werden.

Ein Regisseur beschreibt seine Abenteuer beim Inszenieren eines Stückes. Das
setzt bei ihm einen hochprozentigen Hang zur Nabelschau voraus. Werner
Schneyder hat diese für psychoanalytische Kaffeesatzleser hochbedeutsame
Leidenschaft kultiviert zur charmanten Rechthaberei - nichts anderes ist
Kabarett als dieses: das Ich gefällt sich beim Verfechten einer eigenen
originären Position; und Bücher zu schreiben mit dem großen Ich als
Hauptfigur ist nichts anderes. Hinter den Zeilen aber kauert der Ernst des
Lebens. Meiningen ist für den Autor nicht nur die nach außen hin
fluoreszierende sollipsistische Koketterie, sondern die tapfer gesetzte
Wegmarke eines couragierten Aufbruchs in ein neues, verständigeres
Lebensalter. Das eigentliche Thema des Büchleins ist das verwirrte Suchen
nach einem festen Halt angesichts eines kaum bewussten Heraustretens aus der
von lebendiger Lust geführten Eitelkeit hin in das weite Land der
bestürzenden Fragen und der erbarmungslosen Antworten des Alterns.

Da der Meiningen-Autor der Wahrheit stets die Ehre zu geben bemüht ist,
kann ich ihm im gleichen Zug, nunmehr im Nachlesen wissend geworden,
bestätigen, dass es ihm gelungen ist, das Provinzielle der Wienerischen
Schnitzler-Attitüde erfolgreich nach Meiningen gebracht zu haben. Dies ist
ihm wahrscheinlich nicht klar, aber aus seinen umfangreichen Bemerkungen
geht hervor, dass er Schnitzler nicht so versteht, wie er heute, auf der
Höhe unserer Zeit, verstanden werden kann. Da er aber meint, ihn, ausgehend
von seinen kindlichen Zuschauererfahrungen im Klagenfurter Stadttheater,
verstanden zu haben und auch bei jeder Gelegenheit enthüllenderweise auf
Der Reigen verweist, stellt er ein exemplarisches Verständnis heraus, das
im besten Falle einer Übertragung gleichkommt, die ja eine
analytisch-subtile Form der Verfremdung ist, ein Sehen mit anderen Augen,
ein psychisches Anlehnen, das die Erkenntnismöglichkeit der Gegenübertragung
mit einschließt.

Zu diesem Thema gäbe es im Zusammenhang mit Meiningen viel zu sagen, ein
Schlüsselbeispiel zeigt das Ausmaß eines grandiosen Irrtums. Die Figur des
Schriftstellers Rhon putzt in Schnitzlers Stück den Bonvivant Hofreiter als
Glühlichterfabrikanten herunter. Schneyder: Damit ist Hofreiter aber
nicht beleidigbar. ´Wäre gut, wenn es wahr wäre...´ Was meint er?, frage ich
mich. Was ist er mehr als ein Glühlichterfabrikant? Seiner Meinung nach? Es
gibt nur eine Antwort: Mann. Das ist noch viel anstrengender. Für Schneyder
mag das wohl stimmen, für Schnitzler aber nicht. Hofreiter nämlich hat
Angst, die nackte, schreckliche Existenzangst, er könnte schon kein
Glühlichterfabrikant mehr sein, sondern ein Bankrotteur. Bei Schneyder muss
er Mann sein, weil der Regisseur seine Figuren nur durch den libidinösen
Tunnelblick wahrnimmt, ohne zwingenden objektiven Grund. Die Tragweite
dieser Verengung steht außer Frage. Ohne Vermögen und seine soziale Stellung
ist Hofreiter nicht mal mehr ein ´Mann´, sondern nach den Regeln seines
Dunstkreises ein Niemand. Nicht ohne Grund lässt Schnitzler dieses scheinbar
belanglose Wortgeplänkel in einer Hotelhalle stattfinden, wo das Bild belebt
wird: Touristen und Sommergäste, die von draußen hereinkommen, Gäste, die
sich im Lift fahren lassen, andere, die die Stiege hinauf- und hinuntergehn,
gelegentlich ein Kellner, Herren und Damen, die an einem der Tische Zeitung
lesen und plaudern. Die elegante Welt, doch namenlose Statisterie, zu der
Hofreiter sich bald leicht selbst rechnen könnte. Ein Boy bringt einen
Brief. Friedrich macht ihn auf, lächelt und beißt sich auf die Lippen.

Schneyder zeigt, dass seine Sicht auf Das weite Land nicht schadlos für
sich selbst beschränkt ist von Der Reigen, einer Position also, die
Schnitzler beim Verfassen von Das weite Land schon mehr als ein Jahrzehnt
hinter sich gelassen hatte. Er ignoriert völlig den direkten Zusammenhang
dieser Schlüsselszene mit dem Dialog Genia-Mauer im 1. Akt, kurz bevor
Hofreiter erstmals auftritt, in dem die Unsicherheit der Position Hofreiters
als soziale Unwägbarkeit festgelegt wird. Diese soziale Dimension bleibt bei
Schneyder ganz außer acht, und hat Schnitzler damit auf seinen kleinsten
möglichen Nenner reduziert, eben Provinz.

Und von da aus entgeht ihm mit traumwandlerischer Sicherheit alles, was
wirklich wichtig gewesen wäre. Denn welcher im Geiste gesunder Mensch
interessiert sich heute noch ernsthaft dafür, wer mit wem schläft, außer die
Nachmützen aus dem amerikanischen Mittelwesten, für die der Mensch eh von
Adam und Eva herstammt, mit zierlich angeborenem Feigenblättchen,
selbstverständlich. Zwei andere, eigentlich nebensächliche Pointen, die aber
aufgrund der verqueren Sicht auf das Stück seinem Regisseur-Berichterstatter
verloren gehen: Hat Schneyder wirklich nicht bemerkt, dass im weiten Land
ein einziger Turm steht, der mit den Stück-Prototypen der Erotomanie
besetzt wird - jede Feministin würde dem Regisseur das alles bis aufs
letzte Haar erläutern können. Und: Hat er wirklich nicht bemerkt, daß
Schnitzler von der ersten bis zur letzten Zeile eine wunderbare, scharfe
Häme entwickelt über diese ganze Gesellschaft, sie eigentlich selbst gar
nicht ernst nimmt - eine durchdringende böse Häme, der eigentlich nur das
Allegro assai der etwa zeitgleich entstandenen 9. Sinfonie von Gustav Mahler
ebenbürtig sein kann? - Schade. Das Buch Meiningen ist Feuilleton. Das
weite Land ist Weltdramatik. Die nunmehr von Schneyder erklärte
Inszenierung ein weiterer provinzieller Versuch. Über sie zu lesen ist aber
anregend allemal.